Marion macht Nägel mit Köpfen…
Ein Reisebericht von Marion von Wrycz Rekowski (Rostock)
Aus einem „Mittagspausengespräch“ mit meinem Kollegen Ulf Zimmermann, der im letzten Herbst das erste Mal in Luncani war, entwickelten sich unerwartete Reisepläne. Fasziniert von seinen Erzählungen beschloss ich, mich auf das Abenteuer Rumänien zu begeben. Eine Reise (die im Nachhinein betrachtet) eine Lektion werden würde. Während der Planung und des Packens bemerkte ich diese kleinen Zweifel im Hinterkopf. Obwohl ich mich als „weltoffen“ und „projekterprobt“ bezeichnen würde, hatte ich auch einige Vorurteile im Gepäck. Meine Gedanken an „Zigeuner“ waren geprägt von Wahrsagerinnen, Kartenspielen, Pferden, kitschigen glitzernden Mustern auf der Kleidung und ja – auch kriminellen Energien. Und so erwischte ich mich, dass ich durchaus Bedenken hatte, beklaut zu werden oder auch in Gefahr zu geraten. Auch die Bemerkungen aus meinem Umfeld zu meinen Reiseplänen trugen noch das Nötige dazu bei. Dennoch wuchs die Aufregung: Ich habe ähnliche Projekte bereits in Afrika, Asien und Europa begleitet und freute mich auf die Arbeit, das Abenteuer und die Erlebnisse.
Die Anreise war schnell und problemlos, der Flug dauerte keine zwei Stunden und unser Leihwagen brachte uns rasch ans Ziel. In unserer Unterkunft, der Sozialbetreuungsstätte in Luncani, wurden wir bereits sehr herzlich empfangen – auch wenn man noch nicht mit uns gerechnet hatte. Schon nach den ersten Stunden mit Gerhard wurde mir klar: Hier bin ich auf einen Vollblutsozialarbeiter getroffen. Beindruckt und interessiert lauschte ich seinen Ausführungen und den spannenden Geschichten aus aller Welt. Vielleicht hatten wir nicht denselben Studienabschluss, auf jeden Fall aber dieselbe Berufung und so wurde mir schnell klar: Er ist unbestritten der bessere Sozialpädagoge von uns Beiden ?. Noch nie habe ich eine derartige Hingabe und Liebe für ein Projekt erlebt und bin bis heute von „Gerd“ schwer beeindruckt. Er ist kein Mann der schönen Worte, aber dafür lässt er seine Taten sprechen. Klar und gerecht, liebevoll und emphatisch habe ich ihn die gesamte Zeit über erlebt.
Gleich am ersten Tag konnten wir Gerhard in eine Roma-Siedlung begleiten, die ich so mitten in Europa nicht für möglich gehalten hätte. Zerfallene Häuser, bittere Armut, Not an allen Ecken und Enden – aber auch lachende Kinder, freundliche Menschen, die uns in ihre winzigen Hütten baten. Ich hörte von verlassenen Kindern, Wäsche waschen am Fluss und einer schwierigen Versorgungssituation. Ein Blick in den leeren Kühlschrank bestätigte meinen
Verdacht – hier wird an einigen Tagen noch gehungert. Undichte Dächer, fehlende Kanalisation, defekte Strom- und Wasseranschlüsse, schlechte bzw. keine medizinische Versorgung…
Und wieder mein Gedanke: Wir sind hier mitten in Europa! Nicht tausende Kilometer von der Heimat entfernt, eher ein Katzensprung bis nach Hause und trotzdem gibt es noch diese Armut und diese Ausgrenzung. Und während ich in den Online-Nachrichten las, dass Deutschland gerade in Panik zu verfallen drohte, weil Sonnenblumenöl schwer zu bekommen sei, erlebte ich dort die wahren Probleme vor Ort. Im Laufe der Zeit sahen wir weitere Orte in ähnlichen Zuständen, aber auch Häuser, die vom Verein saniert wurden und Menschen ein neues, sicheres und lebenswertes Zuhause gaben. Es wurde viel geschafft in den Jahren – es ist auch noch so viel zu tun!
Da wir ja nicht zum Urlaubmachen nach Rumänien gefahren waren, ging es dann auch schon ans „Dachbodendämmungsprojekt“ welches im Herbst 2021 begonnen wurde und aus Geldmangel abgebrochen werden musste. Dank der Sponsoren des Vereins „Freundeskreis Castel Banffy“ konnte die Arbeit nun fortgesetzt werden. Und wir hatten große Pläne – die Umsetzung gestaltete sich jedoch nicht ganz so einfach wie gedacht. Während wir uns noch in deutscher Manier von Zeitplänen leiten ließen, lehrte uns das Leben die rumänische Gelassenheit – auch dies war eine wichtige Erfahrung.
Sehr schöne Erinnerungen habe ich an das orthodoxe Osterfest, welches wir in Rumänien feiern durften. Ich erlebte meine erste Mitternachtsmesse in einer orthodoxen Kirchengemeinde und durfte den Kindern die Ostergeschenke packen. Mit Tränen in den Augen verfolgte ich die Ostereiersuche und die Begeisterung über die Schokolade, die wie ein kleiner Schatz nach Hause getragen wurde. Die große Freude über die Kleinigkeiten bleibt für immer in meiner Erinnerung.
Einige meiner schönsten und innigsten Momente verbrachte ich mit „Momo“ – einer alten Frau aus Luncani, die in der Sozialstation mit für das leibliche Wohl sorgte und mich trotz ihres hohen Alters (78) beim Sortieren von 100 Säcken Kleiderspenden unterstützte. Obwohl ich kein einziges Wort rumänisch spreche oder verstehe, hat sie mit mir gescherzt, geredet und mich auch „angetrieben“, wenn ich bei ihrem Arbeitstempo nicht mithalten konnte. Eine bemerkenswerte alte Frau – noch 4 Wochen mit ihr und ich hätte den Grundkurs Rumänisch mit Bravour gemeistert. Momo – deine Küchlein vergesse ich nie!
Und wo ich gerade vom Essen schreibe, muss ich meinen lieben Dobos erwähnen. Er ist in einem Heim aufgewachsen und lebt seit vielen Jahren in der Sozialstation – die Menschen der Station, die Gäste, die Besucher sind seine Familie. Er ist der Sonnenschein des Hauses, der gute Geist in der Küche. Neben vielen Umarmungen und lieben Worten (die er auch auf Deutsch sagen kann) nehme ich aufgrund seiner guten Versorgung auch 3kg Hüftspeck mehr mit nach Hause.
Und ein weiteres Erlebnis hat mich sehr beeindruckt: In meinem beruflichen Leben arbeite ich mit Jugendlichen. Fehlende Motivation, fehlende Ziele, fehlende Entscheidungsbereitschaft sind die Probleme, auf die ich in Deutschland oft stoße. Auch in Luncani traf ich auf junge Männer, die aus verschiedensten Gründen Unterschlupf in der Sozialstation gefunden hatten. Wach und interessiert verfolgten sie die Bauarbeiten im Dach, packten mit an. Den Putzplan des Hauses und ihrer Zimmer setzten sie täglich um. Besonders Spaß schienen ihnen aber die handwerklichen Arbeiten zu machen – natürlich begleitet von lauter Musik. Und so durfte ich auch tief in den Rumänien-Rap abtauchen. Unser Zusammenleben im Haus hat mir gezeigt: Auch wenn sie noch so erwachsen sein wollen, so brauchen sie doch einen Ort der Geborgenheit, Sicherheit und Wärme. Wie schön, dass sie dies alles hier finden. Und wie wunderbar, dass sie durch die Arbeit im und am Haus zur beruflichen Entwicklung und Orientierung motiviert werden. Ihr „Ausbilder“ Sandu führte sie liebevoll und professionell an die handwerklichen Tätigkeiten heran. Als Berufsberaterin war dies eine wichtige Erfahrung für mich.
Neben seiner Tätigkeit als Sozialarbeiter entpuppte sich Gerhard als hervorragender Reiseführer. Während er die Hilfsgüter in den Dörfern verteilte, fuhren wir durch wunderschöne unberührte Natur, sahen viele historische Gemäuer und hörten verschiedene aufregende Geschichten dazu. Neben der „Arbeit“ hatten wir ausreichend Zeit, das Umfeld zu erkunden. Das Land hat mich sehr beeindruckt – ich komme auf jeden Fall wieder.
Ach ja – und natürlich kam es wie es kommen musste: Ein Stück meines Herzens blieb für immer bei den lieben Menschen, die ich dort kennenlernen und mit denen ich dort leben durfte. Unvergessen bleibt für mich die Gastfreundschaft, die gegenseitige Hilfsbereitschaft, die Herzlichkeit, die schönen Abende beim Pflaumenschnaps und die Kommunikation mit allen zur Verfügung stehenden Körperteilen und Medien. Keines meiner Vorurteile hat sich bestätigt – ich habe gelernt, auch viel über mich!
Und … es gibt neue Reisepläne! Nächstes Jahr zu Ostern komme ich wieder!